„Sonderverkauf wegen Geschäftsaufgabe“ – da fing mein Hirn an zu rattern

Ulrike

Alter: 58
Ausbildung: Chemikerin/Meteorologin
Beruf früher: Umweltberatung
Tätigkeit heute: Inhaberin von Maschenwahn

Als sie mit Günther Oettinger in die Kamera lächelte, wusste sie, so geht es nicht weiter.

(Lesezeit: 8 min)

Nach dem Schulabschluss – war Dir sofort klar, was Du einmal machen möchtest?

Nicht ganz. Das ist ein bisschen mit meiner Geschichte verbunden, da ich im Ausland groß geworden bin und es war klar, ich muss nach Deutschland, um zu studieren. Ich bin in Portugal aufgewachsen, und selbst viele Jahre nach der Revolution haben die Universitäten dort noch nicht funktioniert. Ich wäre natürlich am liebsten dort geblieben, denn das Leben dort hatte mich geprägt. Nach Deutschland zu gehen war ein ziemlicher Bruch.
Ich wusste schon, dass mir Naturwissenschaften liegen. In den letzten zwei Jahren an der Schule hat mich mein Chemie-Lehrer sehr stark gefördert, und da mir das wirklich Spaß gemacht hat, habe ich mich dann für Chemische Technologie an der FH Darmstadt eingeschrieben. Was damals aber auch schon feststand war, dass ich im Bereich Umweltschutz tätig sein möchte.
Aber das war dann leider nur eine kurze Episode. Denn dann kam die organische Chemie dazu, die ja ganz wesentlich ist in dem Bereich –  und ich habe auf fast jede Substanz allergisch reagiert. Ich musste also ein neues Betätigungsfeld suchen und so bin ich auf die Meteorologie gestoßen, ein weiteres Steckenpferd von mir, denn Umwelt- und Klimaschutz waren selbst damals (Mitte der 80er Jahre) schon ein wichtiges Thema für mich.

Welche Rolle haben Deine Eltern dabei gespielt?

Mein Vater war Feinmechaniker und es war immer sein Herzenswunsch, dass ich Maschinenbau studiere. Ich glaube, er hat das von mir erwartet, auch damit ich aus der klassischen Frauenrolle rauskomme. Kunst oder so etwas hätte ihn enttäuscht. Aber es war ja dann auch tatsächlich so, dass mir die Naturwissenschaft lag, das war wohl in meinen Genen drin. Ich glaube, er war dann ein bisschen enttäuscht, dass ich „nur“ an die FH gegangen bin.  Aber richtig enttäuscht war er wohl, als ich das Wollgeschäft aufgemacht habe (lacht).

Hast Du Dich mit ihnen über Deine Zukunft auseinandergesetzt?

Sie haben mir eigentlich relativ freien Lauf gelassen. Meine Mutter sagte, mach das, was dich glücklich macht. Bei meinem Vater kam dann schon diese Erwartungshaltung durch, ja studieren und bitte etwas Technisches. Den Kick in Richtung Studium habe ich auf jeden Fall durch ihn bekommen. Nur eine Lehre oder eine Ausbildung, das war außen vor.

Was waren nach dem Studium Deine beruflichen Ziele?

Auch während des Studiums habe ich mich schon wieder Richtung Umweltschutz spezialisiert. Ich habe zum Thema Luftreinhaltung gearbeitet und es ging dann bspw. um die Erstellung von Luftreinhalteplänen für Städte oder wie die Stadtplanung Luftströmungen beeinflusst. In diesem Bereich habe ich einige Jahre an der Universität in Hannover gearbeitet. Ja, und dann kam der nächste Einschnitt: Durch die Wende wurde ein großer Teil der Forschungsmittel gestrichen und unser Institut wurde um die Hälfte reduziert. Gleichzeitig wusste ich aber auch schon, dass mich ein Leben in der Forschung nicht befriedigt, denn es wird immer nur analysiert, aber nichts direkt verändert. Und so bin ich wieder umgestiegen, diesmal vom Klima auf den Klimaschutz. Damit hatte ich dann meine Lebensaufgabe erst einmal gefunden.

Wie ging es dann weiter?

In Frankfurt habe ich beim Klima-Bündnis gearbeitet, das ist ein europäisches Netzwerk von Städten, die sich selbst verpflichten, das Klima zu schützen. Da war ich dann in meinem Element und habe insgesamt fast 25 Jahre für diese Organisation gearbeitet. Zuvor hatte ich bereits eine Fortbildung als kommunale Umweltschutz-Fachkraft absolviert und über das Praktikum bin ich zu dem Städtenetzwerk gekommen. Als freie Mitarbeiterin habe ich zuerst im Bereich Verkehr gearbeitet, Verkehrskampagnen, Seminare und Konferenzen für die Kommunen organisiert, dann nationale und etwas später auch internationale Projekte koordiniert, und irgendwann war ich dann Geschäftsführerin. Das war eine sehr anstrengende Zeit, denn wenn man bei so einer Organisation arbeitet, ist man auf Fremdfinanzierung angewiesen und bangt immer, wie es weitergeht. Als Geschäftsführerin hatte ich die Verantwortung für viele KollegInnen, deren Jobs erhalten bleiben sollten. Und die politische Arbeit und Repräsentation der Organisation war ebenfalls eine große Aufgabe, die mit vielen Reisen verbunden war.

Wann hast Du begonnen, Deine Tätigkeit zu hinterfragen?

Eigentlich immer, denn gerade das Thema Klimaschutz war sehr lange mit viel Frust verbunden. Die Erkenntnisse, dass sich etwas ändern musste, wurden immer deutlicher, aber die Entwicklung ging genau in die andere Richtung. Es gab diese paar Hundert engagierter Städte, aber selbst dort waren es meistens nur einzelne engagierte Personen, die in ihrer Stadt andauernd gegen Widerstände ankämpfen mussten. Und auf der nationalen und EU-Ebene war es genauso: Viele, am Anfang vielversprechende Strategien und Programme wurden im Lauf des politischen Prozesses wieder runterverhandelt. Es war eigentlich nicht die Tätigkeit, die ich hinterfragt habe, die fand ich sehr wichtig, sondern eher der Erfolg der Tätigkeit, der eigentlich immer wieder oder zum großen Teil zunichte gemacht wurde.

Gab es einen Auslöser für die Veränderung?

Ja, das war eine ganz spezielle Situation: Wir hatten mit unseren Städten ein Memorandum vorbereitet, da ging es gerade um einen neuen Energieaktionsplan für Europa. Bei einer Tagung in Athen musste ich mich neben den damaligen EU Energie-Kommissar Günther Oettinger auf eine Treppe eines Tempels stellen, in die Kameras grinsen und ihm dieses Dokument überreichen. Und während ich da stand und in diese Kameras guckte, wusste ich, okay so geht es nicht weiter – das will ich nicht (lacht).

Wie schnell hattest Du einen Plan B?

Einfach aufhören, ohne irgendeine Perspektive, das hätte ich nicht gemacht. Denn ich wusste genau, wenn ich allein zu Hause sitze, fällt mir die Decke auf den Kopf. Aber zum Glück kam schon kurz danach der Anstoß für die Veränderung.

Hast Du parallel an Deinem Ausstieg gearbeitet?

Meine Vorgeschichte ist auch dabei nicht unwichtig. Meine Mutter war wollverrückt, sie hat gestrickt und gewebt – ich bin sozusagen zwischen Wollbergen aufgewachsen. Ich habe selber mit 5 Jahren stricken gelernt und habe nie aufgehört wie viele andere, sondern das Stricken hat immer zu mir gehört. Das war meine Leidenschaft – aber halt eben immer nur Hobby. Als es in der Tätigkeit so anstrengend wurde, ist mir immer öfter der Satz entfahren: „Irgendwann mache ich mal einen Wollladen auf!“ Aber das war eher ein abstrakter Wunschtraum und ich habe eigentlich nie geglaubt, dass ich das einmal wirklich umsetze. Und dann kam eben diese Frustphase. Zufällig las ich dann in einem Wollgeschäft in meiner Nähe das Schild „Sonderverkauf wegen Geschäftsaufgabe“ und da fing mein Hirn an zu rattern. Ich habe an nichts anderes mehr gedacht. Ich wusste, dass ist die Chance. Gleich am nächsten Tag habe ich dort gefragt, wie es mit einer Nachfolge aussieht, aber die Geschäftsräume waren schon anderweitig vermietet. Aber natürlich hat mich das nicht mehr losgelassen und es gab dann die nächste Fügung des Schicksals. Wenige Tage später wählte ich für den Heimweg eine andere Strecke, kam an der ETAGERIE* vorbei, sah das Fahrrad von einer der Inhaberinnen und ich ging rein, um ein bisschen zu quatschen. Wir haben aber kaum zwei Sätze gesprochen, sondern gleich in diese Ecke im Laden geschaut. Sofort war klar, da mache ich mein Geschäft auf. Das war 2014.

Wie wichtig war finanzielle Sicherheit für Dich?

Mein Mann und ich waren 25 Jahre lang gute Doppelverdiener und unser Sohn war damals schon fast erwachsen. Es gab eine gewisse finanzielle Sicherheit, so dass ich eine Durststrecke am Anfang gut überstehen könnte. Ich habe dann zunächst meine Geschäftsführungstätigkeit aufgegeben, aber neben dem Laden noch weiter als Projektmanagerin beim Klima-Bündnis gearbeitet, anderthalb Jahre mit einer reduzierten Stundenzahl.

Gab es einen Widerstand, den Du selbst mit Dir diskutiert hast?

Ich denke, jede und jeder kämpft zuerst einmal mit einem inneren Widerstand, wenn man so eine völlige Kehrtwende im Leben macht. Was ist, wenn das überhaupt nichts wird? Ein bisschen Angst vorm Scheitern hatte ich natürlich schon, aber der Wunsch, diesen Traum zu verwirklichen, war einfach stärker. Es war vor allem mein Konzept, das ich umsetzen wollte. Mir hat bei einem Geschäft nie vorgeschwebt, einfach nur die Wollknäuel zu verkaufen, sondern ich hatte ein Bild von einem Treffpunkt und das hat hier wunderbar gepasst.

Wie hat Dein Umfeld reagiert – Freunde, Bekannte?

Sie haben mich alle für meinen Mut bewundert und ich habe ganz viele Briefe und Karten bekommen, als ich den Laden eröffnet habe. Bei einigen glaube ich, rausgehört zu haben, dass sie dachten, och Mist, das hätte ich doch vielleicht auch machen können, weil sie eben auch nicht zufrieden waren in ihrem Job. Viel Ermutigung und Rückhalt bekam ich von meinem Mann, dem eine ärmere, aber glücklichere Frau auch lieber war.

Würdest Du sagen, Du bist erfolgreich in Deinem jetzigen Business?

Ja, ich denke schon. Es kommt darauf an, wie man Erfolg definiert. Natürlich fragen mich viele, warum ich keinen Online-Shop habe und kein Riesen-Business daraus mache, aber das will ich gar nicht. Ich komme hier gut über die Runden. Ich verdiene ungefähr so viel wie vorher und es gefällt mir – es ist genau der richtige Level. Natürlich will ich mich inhaltlich weiterentwickeln, was Garne und Kurse anbelangt. Was ich anbiete, da habe ich schon Ziele, aber was den Umsatz oder den „Erfolg“ angeht, damit bin ich sehr zufrieden.

Und wie siehst Du Dich in der Rückschau, denkst Du an Dein altes Leben?

Ja oft. Ich denke gerne an die Zeit zurück, auch weil ich es mit vielen tollen und beeindruckenden Menschen zu tun hatte, im Kollegenkreis, aber auch in den Partnerstädten und -organisationen. Die inhaltliche Arbeit und die Zusammenarbeit mit vielen spannenden Menschen hat sehr viel zu meiner Entwicklung beigetragen. Aber dass ich in dem jetzigen „Klimaschutz-Hype“ noch gerne mitmachen würde, kann ich nicht sagen. Ich sehe es nach wie vor genauso skeptisch. Man kann sich Ziele setzen, so viel man will, aber wenn nichts umgesetzt wird, passiert halt auch nichts. Das war eine lange Episode, die längste in meinem Leben, und eine sehr wichtige und ich freue mich, dass ich sie gehabt habe.

Zur Pandemie: Hat sich dadurch die Sichtweise auf Deine Tätigkeit heute verändert?

Nein, die Sichtweise auf die Tätigkeit nicht, aber es war natürlich die Frage, wie stellt man sich auf, wenn man einen Laden hat, der davon lebt, dass die Leute reinkommen, sehen und fühlen können, an Kursen und Stricktreffs teilnehmen – und sie das auf einmal nicht mehr können. Dann kommt natürlich sofort die Frage auf: Online-Shop? Aber da bin ich relativ schnell wieder von abgekommen, denn den Aufwand hätte ich nicht aufbringen können und Päckchen packen, das will ich einfach nicht. Es war schon harte Arbeit, während des Lockdowns die Sachen zu präsentieren, um sie den Leuten irgendwie zugänglich zu machen: Verkauf an der Hintertür, Bringdienst nach Hause, mit dem Köfferchen die Ware zeigen usw. (lacht). Später konnte ich ja hier an der Tür die Abholung anbieten, das war dann schon besser. Natürlich hatte ich Umsatzeinbußen, aber es wurde in dieser Zeit viel gestrickt und ich bin meinen treuen KundInnen sehr, sehr dankbar, dass sie nicht einfach irgendwo anders online bestellt haben. So habe ich überlebt. Durch die Pandemie wurde ich in meiner Tätigkeit eher bestärkt, denn ich habe von so vielen gehört, für die das Stricken ein Rettungsanker in dieser Zeit der Isolation war.

Glaubst Du, dass Frauen generell mutiger geworden sind, einen Umbruch zu wagen?

Auf jeden Fall. Es gibt so viele Beispiele von Frauen, die es schon gewagt haben und Erfolg damit hatten. Das macht den anderen Mut. Es gibt heute ja kaum noch eine Biografie ohne einen Bruch, gewollt oder ungewollt. Die wenigsten haben ihr ganzes Leben lang im gleichen Job gearbeitet, allein schon dadurch, dass es immer mehr unsichere und befristete Arbeitsverhältnisse gibt. Und so ein Umbruch wird heute eher als Aufbruch, denn als Scheitern gewertet. Ich denke, dass die jungen Leute heute ihre Karriere nicht bis zum Rentenalter durchplanen.

Hast Du einen Tipp für Frauen, die sich verändern wollen?

Es ist schon die Planung und zwar die Worst Case-Planung. Sich zu fragen, was passiert, wenn ich wirklich total auf die Nase falle, ist sicher gut. Und wenn man da schon eine Perspektive hat, dann gibt das auch nochmal Rückenwind. Auch sollte man sich die Risiken und die Konkurrenz realistisch anschauen, denn viele Gründungen gehen auch leider in die Hose. Und man sollte sich Beratung holen, ein Coaching zum Beispiel, vor allem wenn man von einer angestellten in eine selbständige Position geht. Und man braucht viel Kraft, sich in alles reinzufuchsen. Anfangs war das schon wirklich erstmal eine intensive Phase, sich mit allem auseinanderzusetzen und das nötige Fachwissen anzueignen. Was gibt es alles? Was könnte ich ins Sortiment nehmen, was wollen meine Kunden und was will ich ihnen überhaupt verkaufen? Ein pinkfarbenes Polyacrylgarn WILL ich nicht verkaufen (lacht), sondern bei mir gibt es Naturgarne und ich will fair hergestellte Garne.
Und auch in dem ganzen Bereich der Werbung, sich bekannt zu machen, habe ich sehr viel lernen müssen. Ich brauchte ganz schnell eine Webseite, um gefunden zu werden. Und natürlich bediene ich alle möglichen Social Media-Kanäle, Instagram, Facebook etc. Aber das scheint ganz ansprechend zu sein, denn es kommen auch wirklich viele Leute von weit her in mein Geschäft.

*„Etagerie“, Manufakturladen und Veranstaltungen, wurde von den 3 Organisatorinnen der „Home Made Fair“ gegründet.