„Ich könnte doch eigentlich nochmal was ganz anderes machen“

Sabine

Alter: 56
Ausbildung: Master of Business Administration
Beruf früher:
Unternehmensberaterin, Personalleiterin
Beruf heute: Selbstständige Heilpraktikerin und Osteopathin
www.osteofemme.de

„Irgendwann merkte ich, dass einfach meine Neugier, der Hunger auf was ganz anderes immer größer wurde.“

(Lesezeit: 9 min)

Die Schule war zu Ende oder kurz vorher, was war deine Idee fürs Berufsleben?

Tatsächlich habe ich mich damals nach dem Abi ein bisschen schwer getan, weil mich einerseits analytische Fächer reizten, andererseits interessierten mich Sprachen sehr. Mein Vater kam dann plötzlich mit einer International Business School um die Ecke, die damals wie Pilze aus dem Boden schossen. Und da habe ich gemerkt, das ist genau das, was ich will: programmieren lernen und Fremdsprachen fortführen und dazu noch BWL, außerdem war das Studium auf einen klar definierten Zeitraum von sechs Semestern angelegt. Ich dachte damals, dass ich mit der studentischen Freiheit an der Uni niemals zu einem Abschluss käme. So kam mir dieses Studienformat sehr zupass.

Welchen Einfluss nahmen dabei deine Eltern, Geschwister?

Mein Vater hat viel mitdiskutiert, meine Mutter hingegen spielte in meiner Erinnerung keine Rolle. Ich habe zwei jüngere Geschwister, die allenfalls interessiert zugeguckt haben. Wir alle haben in verschiedenen Schullaufbahnen unterschiedliche Wege genommen – und dies war eben meiner.

Hattest du ein Bild vor Augen, was du mal sein möchtest?

Damals habe ich immer gedacht, ich lerne Chefin. Ich arbeite vielleicht anfangs in einem großen Unternehmen, aber das mache ich zwei Jahre, bis ich weiß, womit ich mich selbstständig machen will. Mein Vater war Selbstständiger und hat uns Kindern das immer als das Beste, was man auf der Welt werden kann, angepriesen. Und so war das auch meine Idee.

Während des Studiums bin ich für ein Praktikum nach Barcelona zu einer Halbleiterfirma gekommen. Und die haben gesagt, „komm her, wenn du fertig bist“. Gleichzeitig bekam ich von der Business School ein Stipendium für ein MBA-Studium in USA. Ich war zu der Zeit ganz fokussiert darauf, nach drei Jahren Studium ins Berufsleben einzusteigen. Also bin ich an die Southern Illinois University at Edwardsville gegangen und habe dort den Master gemacht.

Und danach, wie verlief deine Karriere? War Spanien noch ein Thema?

Auf eine Anzeige in der Zeitung habe ich mich bei Andersen Consulting beworben und wurde umgehend zum Assessment Center eingeladen. Am Ende des Tages habe ich direkt ein Angebot bekommen und so habe ich mich gar nicht weiter umgeschaut. Ich hatte es nicht strategisch geplant, als Unternehmensberaterin zu arbeiten, sondern es ergab sich so. Ich fing dort mit 24 Jahren an, viel jünger als die meisten, die hier in Deutschland das typische Diplom-Studium gemacht haben. Und so nahm meine Karriere ihren Lauf. Spanien war abgehakt, ohne dass es nochmals zum Thema geworden wäre.

Auf der Karriereleiter nach oben
Mit der ersten Beförderung wurde ich für ein Projekt nach Rhein Main gerufen. Dort lernte ich meinen Mann kennen – alles binnen weniger Wochen. Die Aufgaben waren spannend und blieben es über diverse Projekte und erneute Beförderungen sechs Jahre lang bis zur Geburt unseres Sohnes. Schon während des Mutterschutzes bekam ich die Rolle als Personalleiterin angeboten, die ich gerne annahm. Insgesamt arbeitete ich neun Jahre in verschiedenen Teilzeitformaten über die Geburt unserer Tochter hinaus für wechselnde Geschäftsbereiche.

Warum bist du geblieben?

Die Firma hat mir als Arbeitgeber super gefallen. Dadurch, dass große Organisationen häufig reorganisieren und man mit anderen Menschen zusammenarbeitet, ist ja immer viel Bewegung, viel Veränderung, auch wenn man vielleicht von der Aufgabe her gar nicht so drastisch neue Dinge macht. Aber irgendwann war das für mich ausgereizt und ich habe eine neue Rolle als Director of Operations übernommen. Mit einem 80-Prozent-Vertrag konnte ich meine Arbeitszeiten in dieser Zeit flexibel gestalten und so habe ich weitere sechs Jahre gearbeitet.

Es lief also ziemlich gut, du hattest dir eine ideale Stelle innerhalb des Unternehmens geschaffen. Woher rührte der Wunsch nach Veränderung?

Irgendwann ist mir bewusst geworden, dass ich mich bei der Arbeit langweile: Sicher, es gab viel zu tun, aber es erschien mir immer weniger nachvollziehbar, warum es mich dafür braucht und es machte immer weniger Spaß. Es war wie in einer Mühle: Ich war sehr erfolgreich. Ich hatte aber mehr und mehr das Gefühl, ich bin k.o., weil ich mehr Energie hineinstecke als herausbekomme.

Was waren deine Gedanken zu dieser Zeit?

Ich hatte eine sehr spätpubertäre Abkoppelung, wir hatten in meinem Elternhaus sehr enge familiäre Beziehungen. Bis ich mich davon freigesprochen habe, hat es lange gedauert. Mein Vater fand es z.B. immer völlig daneben, wenn Menschen in der Mitte ihres Lebens noch mal anfangen zu studieren. Das war in meinem Kopf abgespeichert und kam mir nun wieder in den Sinn: Ich könnte doch eigentlich nochmal was ganz anderes machen.

Wann hast du dir die Zeit dafür genommen, über die Dinge zu reflektieren?

In der Tat war Zeit und Energie für so etwas zu finden, die allergrößte Herausforderung. Ich bin jeweils sehr kurz nach der Geburt meiner Kinder wieder in den Beruf zurückgekehrt. Nach der Geburt unserer Tochter habe ich aber schnell gemerkt, dass das ein Fehler war: Ich war stehend k.o. und bekam zudem in sehr kurzer Abfolge immer wieder neue Verantwortlichkeiten im Büro angeboten. Das hat mich überfordert und so habe ich mir externe Hilfe durch einen Coach gesucht. Sie stellte mir die Frage: „Was ist die längste Zeit, die du dir aktuell vorstellen kannst, wo du keine einzige Entscheidung triffst?“ Das fand ich eine merkwürdige Frage. Bis dahin hatte ich mein Leben immer wie Projekte organisiert – das konnte ich, das hatte ich gelernt. Vier Monate habe ich dann letztlich keine Entscheidungen getroffen. Und das erwies sich als genial: Viele Themen haben sich in der Zeit von selbst erledigt, mein Kopf war danach wieder frei und ich hatte sogar etwas Energie gewonnen. Im Ergebnis bin ich in den Mutterschutz zurückgekehrt.

Zurück in den Stress
Aber natürlich konnte ich meine Füße nicht ganz still halten: Ich bin im Kindergarten in den Vorstand gegangen und wir haben angefangen, ein Haus zu bauen. Genau dann bekam ich wieder ein Jobangebot für 12 Stunden pro Woche, was machbar schien, nur dass daraus schnell wieder 20 und  bald auch 30 Stunden wurden. Irgendwann mit Anfang 40 war meine Kraft erneut am Ende, auch wenn ich durch Familienurlaube immer wieder Energie tanken konnte. Auch, dass die Kinder größer und gesünder wurden, hat mir viel Stress genommen. Zuvor dachte ich manchmal, den Kindern geht es nur schlecht, weil ich so viel arbeite.

Weitere Einschnitte und Einsichten
Über Freundinnen bin ich zum Kundalini Yoga gekommen – und das hat mich als Person wirklich nach vorne gebracht: Durch das regelmäßige Üben und Meditieren habe ich neue Energie bekommen, und ich habe mich noch einmal ganz anders mit meinen Fähigkeiten und Wünschen auseinandergesetzt.

Wodurch kam schließlich der Break?

Als meine engste Freundin bei einem Autounfall ums Leben kam, habe ich endgültig gewusst, ich verplempere meine Zeit – das war der Wendepunkt. Ich habe ein halbes Jahr Vorbereitung gebraucht für den Switch: Am 15. September habe ich angefangen, Osteopathie zu studieren und am 30. September ist mein Arbeitsvertrag ausgelaufen.

Wie kamst du auf die Osteopathie?

Durch meine Kinder habe ich mir viele Gedanken gemacht, die waren häufig krank anfangs, viele Jahre war immer irgendwas. Dabei habe ich mich zunehmend damit auseinandergesetzt, wie man das Immunsystem stärken kann. Und so hatte sich da schon ein bisschen Wissen angesammelt. So habe ich mich umgeschaut und  überlegt, was brauche ich, wo möchte ich in zehn Jahren sein? Ich bin dann einfach ins Internet gegangen und habe bei Wikipedia unter Komplementärmedizin geschaut. Dort gibt es dazu eine unfassbar lange Liste und ich bin gleich bei Osteopathie hängengeblieben (lacht). Allerdings dachte ich nicht, dass das Studium fünf Jahre dauert. Es hat einige Zeit gebraucht, meinen Mann davon zu überzeugen, dass das absolut etwas ist, was jetzt mal geht, weil es für mich und damit auch für die Familie wichtig ist. Und dann habe ich mich nach einer guten Schule umgeschaut, weil Osteopathie in Deutschland leider kein geschützter Beruf ist. Die fünf Jahre waren hart, hier sind viele Tränen geflossen. Meine Familie hat mich getröstet und mir den Rücken gestärkt, weil ich war ja nicht gerade die typische Studentin: Ich hatte ein Haus, zwei Kinder in Schule / Studium, einen Hund, war täglich 80 km mit dem Auto unterwegs. Alles musste unter einen Hut gebracht werden. Ich bin gesprungen, ohne zu wissen, wo ich lande. Aber ich habe nie gezweifelt, dass es die richtige Entscheidung war.

Und wie hat dein Umfeld reagiert?

Den Wechsel habe ich angestoßen, als ich 49 war. Ich habe viele Freundinnen und Freunde in meinem Alter und die Reaktionen reichten von völligem Unverständnis bis hin zu „ja, das sollte ich auch machen“ oder „klar, du kannst es dir ja auch leisten.“ Für mich zählte nur, dass es sich zutiefst richtig anfühlte. Ich hatte ja bereits erfolgreich etwas auf die Beine gestellt, deshalb habe ich keinen Druck von außen verspürt. Kritik aus dem Umfeld hat mich eher ermutigt und mich auf dem Weg bestätigt, als dass sie mich verunsichert hätte.

Das Ende des Studiums nahte. Und dann?

Was mich dann doch nervös gemacht hat, je mehr ich zum Ende kam, war die Vorstellung, jetzt daraus einen Beruf zu machen und darin auch erfolgreich zu sein. Denn das Ganze hatte nie Hobbystatus, sondern sollte auch mein Standbein im Alter sein. Ich habe gemerkt, dass es für mich, um glücklich und zufrieden zu sein, sehr wichtig ist, dass ich immer wieder etwas lernen kann – und das bedient dieses Berufsbild ungemein.

Wie hast du den Einstieg in deinen neuen Beruf gemeistert?

Ich habe gar nicht gesucht, sondern wurde aus dem Umfeld meines Bekanntenkreises gleich von zwei Praxen als Freiberuflerin angefragt. Zweifel kamen mir anfangs allerdings im Sinne von glaubt mir jemand die Osteopathin, wenn ich noch nicht 20 Jahre Berufserfahrung habe. Da habe ich aber viel Unterstützung von erfahrenen Kolleginnen und Kollegen bekommen, die sagten: „Denk nicht so viel, lass einfach deine Hände arbeiten.“ Das war sehr hilfreich. Und weil ich selber bereits viel Lebenserfahrung hatte, konnte ich mit der Lebensrealität meiner Patientinnen und Patienten gleich gut umgehen.

Wo stehst du heute?

Inzwischen habe ich meine eigene Praxis eröffnet. Viele Patientinnen und Patienten schätzen es, dass ich ihnen erklären kann, warum ich sie jetzt auf bestimmte Art und Weise behandle und wenn ich einen Zusammenhang nicht sofort erkenne, sage ich das auch und mache mich bis zum nächsten Mal schlau. Das ist etwas, was mir sehr hilft.

Denkst du, dass du damals eine falsche Berufsentscheidung getroffen hast?

Diese Frage habe ich mir oft gestellt. Ich glaube es nicht. Es hatte alles seine Richtigkeit so. Ich bin heute ein anderer Mensch, als ich es mit Anfang 20 gewesen bin. Ich habe als Person eine große Entwicklung gemacht seitdem.

Glaubst du, dass es heutzutage leichter fällt, sich zu verändern?

Das finde ich nicht leicht zu beantworten, denn ich bin mit einer Mutter groß geworden, die Hausfrau und Mutter im besten Sinne gewesen ist und die sich selbst immer sehr zurückgenommen hat. Vielleicht ist es heute leichter, sich zu verändern, weil wir gelernt haben, dass wir glücklich sein dürfen und wir trauen uns dann auch, Ansprüche zu stellen.

Was sind jetzt deine neuen beruflichen Ziele, wie ist deine Ausrichtung?

Was mir besonders am Herzen liegt, ist geschlechtersensible Medizin, weil das eine gesellschaftliche Strömung ist, die mir ständig und auf allen Ebenen begegnet. Bei meiner Ausbildung habe ich festgestellt, dass sich in der Studienlage fast nichts am Bedarf der Frau orientiert. Aber selbst Symptome von Krankheiten sind oftmals geschlechtsspezifisch, da muss es die Behandlung auch sein. Für mich ist es total wichtig und spannend zu schauen, wie ich Patientinnen und Patienten helfen kann, ihren Gesundheitszustand zu verbessern. Frauengesundheit ist dabei mein spezielles Steckenpferd, deshalb heißt meine Praxis auch OsteoFemme.

Dein Lebensmotto lautet?

Für mich gibt es nicht dieses eine Motto, sondern viele Mottos ergeben aus meinem Verständnis einen Sinn in einer bestimmten Lebensphase. Danach haben sie entweder ihren Zweck erfüllt oder bewiesen, dass sie für mich nicht passen. Wenn ich nicht weiterkomme, versuche ich möglichst viele unterschiedliche Perspektiven auf die Situation zu entwickeln. Das eröffnet Möglichkeiten. Damit kann ich dann den nächsten Schritt machen. Manchmal ist dieser lebensverändernd, manchmal nur ein kleines Puzzlestück. Ich vertraue darauf, dass sich der Weg beim Laufen zeigt.